Blogbeitrag

Gamification ist Mist

Warum wir trotzdem spielerische Ansätze brauchen.

Ich liebe Spiele. Egal ob digital oder analog, ob mit anderen Menschen oder ab und zu auch gerne allein vor dem Bildschirm. Und ich bin tendenziell ein politischer Mensch, der trotz vieler Diskussionen davon überzeugt ist, dass wir in unseren Städten, Gassen, Dörfern und Plätzen mehr Beteiligung der Menschen, die dort leben, brauchen. Ich habe sogar meine Diplomarbeit dem Thema Partizipation und Spiel gewidmet und bin trotzdem der Meinung, Gamification ist Mist. Oder kann Mist sein. Es ist kompliziert.

Für alle die noch nicht mit dem Begriff Gamification vertraut sind, hier die hastig zusammenkopierte Definition von Wikipedia: „[…] die Anwendung von Spieledesignprinzipien, Spieledesigndenken und Spielemechaniken auf spielfremde Anwendungen und Prozesse, um Probleme zu lösen und Teilnehmer zu engagieren. Ziel ist eine Motivationssteigerung der Benutzer, mit den Anwendungen verstärkt zu interagieren oder erwünschte Verhaltensweisen anzunehmen” (https://de.wikipedia.org/wiki/Gamification, Stand: 03.09.2020). Wenn Sie diese Definition nun zwiegespalten zurücklässt, sind Sie an demselben Punkt wie ich. Spieledesigndenken ─ Klingt gut. Probleme lösen­ ─ auch immer wichtig. Menschen motivieren und zur Interaktion einladen ─ Super! Menschen dazu bringen „erwünsche Verhaltensweisen anzunehmen“ ─ das wiederum klingt zumindest für mich ziemlich gruselig, besonders im Kontext von BürgerInnenbeteiligung.

Wer Debatten oder Vorträge zu dem Thema mitverfolgt hat, kennt das Gefühl vielleicht. Der oder die Vortragende präsentiert begeistert eine neue Möglichkeit spielerisch und mit Schwung die Welt zu verbessern. Und trotzdem bleibt immer wieder ein bisschen schaler Beigeschmack. Denn kann man ernste Probleme wirklich zu Spielen umfunktionieren? Das klingt alles ein bisschen zu gut, um wahr zu sein, oder nicht? Da muss es doch einen Haken geben?

Spiel als Kulturtechnik

Ja diesen Haken gibt es. Und auch weitaus mehr als einen. Denn Gamification beschreibt ein sehr weitläufiges, lose definiertes Feld und viele Beispiele sind nicht mehr als simple Belohnungsschemata, wie wir sie seit Jahrzehnten aus dem Marketing kennen in einer neuen hippen Verpackung. Zwar redet man dann von aufregenden Dingen wie XP (oder Erfahrungspunkten), Quests und Achievements aber die Mechanismen und Systeme bleiben meist dieselben. Schließlich ist wenig Unterschied zwischen der Idee „Sammle noch drei Münzen und du schaltest das nächste Level frei“ und „Kaufen Sie vier Café, dann bekommen Sie den fünften Gratis“. Das ist zwar ein eher harmloses Beispiel für Manipulation und Marketing mittels Gamification, zeigt aber wie billig diese oftmals daherkommt. Klar, diese Dinge funktionieren und in manchen Fällen gibt es hierfür auch sinnvolle Anwendungen. Viele Fitness Apps basieren auf einer ähnlichen Idee und helfen sicherlich der ein oder anderen Person, ihre Ziele zu erreichen. Aber ist das wirklich alles? Schrittzähler mit eingebautem Belohnungssystem und neuer Marketingsprech? All die mitreißenden Texte und Vorträge über Gamification als Wundermittel für sowas?

Ich bin der Meinung Nein, das ist nicht alles und Ja, wir brauchen mehr spielerische Ansätze in vielen Bereichen des Lebens und insbesondere in der Beteiligung. Dafür muss man aber ein wenig tiefer schürfen. Denn Spielen ist eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit und war in der gesamten Geschichte unserer Spezies immer ein wesentliches Element. Der Anthropologe Johan Huizinga argumentiert in seinem Buch „Homo Ludens ─ Vom Ursprung der Kultur im Spiel“ (2014), dass die meisten anderen menschlichen Kulturtechniken sich aus dem Spiel entwickelt haben, dass Kultur an sich einen Spielcharakter hat. Aus seiner Sicht hat sich das ungefähr so entwickelt:

Eine Gruppe von Menschen kommt zusammen, hat gerade keine Probleme mit dem Überleben und beginnt eine bestimmte Tätigkeit. Beispielsweise empfindet man es als nette Ablenkung einen runden weichen Gegenstand mit dem Fuß an einen gewissen Ort, zum Beispiel zwischen zwei Bäume zu bugsieren. Nach einem ersten Durchgang entsteht so eine gemeinsame Erfahrung. Und da diese Tätigkeit sowie die gemeinsame Erfahrung in guter Erinnerung bleiben, entschließt man sich das zu wiederholen. Dieses wiederholte Tätigkeit zieht noch zusätzliche Menschen an, die mitmachen wollen und eine Gemeinschaft entsteht. Jedenfalls entsteht so eine Gruppe oder Gemeinschaft basierend auf der Tätigkeit runde Objekte mit dem Fuß zwischen zwei statische Objekte zu bugsieren. Dieses gemeinsame Tun sowie das Teilen der Erfahrung und aller damit verbundenen Lernprozesse, Wertvorstellungen und Haltungen ist, was Huizinga als Kultur definiert.

Das vorher gewählte Beispiel war bewusst sehr harmlos gehalten. Aber auch in ernsteren Bereichen lässt sich ein ähnlicher Prozess beobachten. Huizinga beschreibt genau denselben Mechanismus, wenn er von der Entwicklung der Justiz und der Rechtsprechung redet. Denn wir sind als Gesellschaft irgendwann auf die Idee gekommen, dass es nicht sinnvoll ist, zwei Menschen solange streiten zu lassen, bis es zu Gewalt kommt. Stattdessen haben wir begonnen in solchen Situationen spezielle Rollenspiele und immer komplexere Regelwerke zu entwickeln. Bei diesen Spielen werden die streitenden Parteien von anderen Menschen vertreten, die in manchen Epochen mit lustigen Hüten, Perücken, Mänteln und wahlweise mit Aktentaschen oder kleinen Hämmern ausgestatten sind. Diese Menschen lösen dann den Streit stellvertretend und im Sinne der Gemeinschaft. (Wobei ich noch immer auf das Update warte, das „Pay-to-Win“ in diesem Spiel verbietet).

Spiele erzeugen Gemeinschaft und eine eigene Kultur der Spielenden. Natürlich schaffen Spiele auch Identität, immerhin kann man klar unterscheiden zwischen Gruppen die runde Objekte mit dem Fuß, der Hand, einem Stock oder anderen Dingen bewegt. Man kann auch zwischen diesen Gruppen wechseln, aber vermutlich macht man sich keine Freunde, wenn man mit dem Golfschläger am Fußballplatz auftaucht. Aber solange man sich an die Regeln hält zählt nur eines: die gemeinsame Erfahrung. Game Designer Jesse Schell bringt diesen Fakt auf den Punkt:

“Ultimately, a game designer does not care about games. Games are merely a means to an end. On their own, games are just artifacts – clumps of cardboard, or bags of bits. […] Why is this? […] When people play games, they have an experience. It is this experience that the designer cares about. Without the experience, the game is worthless.“

(Schell, 2014: S.10)

Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Warum Gamification gerade jetzt so an Popularität gewinnt lässt sich relativ einfach erklären: Wir leben in einer Welt, in der wir permanent von komplexen interaktiven System umgeben sind. Und Spiele sind ebenso komplexe interaktive Systeme, die nach gewissen Regeln funktionieren. Spielen bedeutet daher auch Systeme zu navigieren, Dinge auszuprobieren, Zusammenhänge herzustellen und Regeln zu hinterfragen. Der Game Designer und Autor Eric Zimmerman hat zu dieser Parallele ein Manifest verfasst, in dem er erklärt, dass das 21. Jahrhundert der Beginn eines ludischen (oder spielerischen) Zeitalter ist. Während im 20. Jahrhundert unsere Systeme linear und in klare Hierarchien eingeteilt waren (mit aktiven Sendern und passiven Empfängern) gab es mit dem Internet und der digitalen auch eine spielerische Wende:

When information is put at play, game-like experiences replace linear media. Media and culture in the Ludic Century is increasingly systemic, modular, customizable, and participatory. […] The ways that we work and communicate, research and learn, socialize and romance, conduct our finances and communicate with our governments are all intimately intertwined with complex systems of information — in a way that could not have existed a few decades ago. 

(Zimmerman, 2015: S.20)

Für Zimmerman ist genau dieser Umstand die zentrale Herausforderung unserer Zeit. Spiele sind insofern das wichtigste Medium, als sie uns helfen diese komplexen Zusammenhänge verständlich zu machen und das Denken in systemischen Zusammenhängen fördern. Denn nur spielerisch ist es möglich, viele der abstrakten und komplexen Phänomene unseres Alltags erlebbar zu machen. Erst dadurch können wir diese Hinterfragen und unsere eigenen Regeln aufstellen. Denn nur wenn wir die Regeln verstehen, die uns umgeben, können wir diese brechen. Oder einfacher gesagt: Es ist schwierig „Out of the Box“ zu denken, wenn wir nicht wissen, wo die Box anfängt und wo sie aufhört. Zimmerman beschreibt diese Idee ein wenig eloquenter als ich:

„It is not enough merely to be a systems-literate person to understand systems in an analytic sense. We also must learn to be playful in them. A playful system is a human system, a social system rife with contradictions and with possibility. […] In the Ludic Century, we cannot have a passive relationship to the systems that we inhabit. We must learn to be designers, to recognize how and why systems are constructed, and to try to make them better.”

(Zimmerman, 2015: S.21)

Wenn man Techniken aus dem Bereich des Game Design also wirklich zielführend in anderen Bereichen einsetzen möchte, dann reicht es nicht, nur hippe neue Begriffe für alte Tricks zu verwenden. Gamification, so wie ich und viele andere sie verstehen ist nicht nur das Hinzufügen von extrinsischen Belohnungen. Vielmehr geht es um gemeinsame Erfahrungen und um eine intrinsische Motivation. Es geht darum, die Systeme und Mechanismen, mit denen wir tagtäglich umgeben sind, greifbar und erfahrbar zu machen und neue Kulturen und Gemeinschaften zu fördern, die sich mit den wichtigen Fragen der Beteiligung auseinandersetzen wollen.

Gamfication vs. Gameful Design

Aber die Frage wie man so etwas machen könnte, lässt sich hier nicht mehr so schnell beantworten. Einige Ideen dazu habe ich bereits und ein weiterer Text zu diesem Thema ist auch schon in Arbeit. Was ich in diesem Artikel aber aufzeigen will ist, dass Gamification, so wie sie oftmals verkauft wird, leider nur ein Schmäh ist. Trotzdem ist der Gedanke dahinter kein schlechter ─ die Kulturtechnik des Spiels und des Spielens weiter zu entwickeln und neu zu entdecken hätte viele Vorteile. Insbesondere im Bereich der Partizipation glaube ich, dass es im Game Design viele Ideen, Techniken und Konzepte gibt, von denen wir eine Menge lernen können. Bevor ich aber dorthin komme war es mir wichtig aufzuzeigen, warum ich mit dem Begriff Gamification Schwierigkeiten habe, wo es doch offensichtlich all die Dinge umfassen könnte, die mir auch gut und wichtig erscheinen. Das Problem ist, dass genau dieser Begriff enorm flach ist und auch mittlerweile von VerfechterInnen der Idee, wie beispielsweise Jane McGonigal, schlicht aufgegeben wurde und dem neoliberalen Kapitalismus überlassen werden musste. Denn Gamification, als das Einsetzen von manipulativen Belohnungsschemata um Menschen dazu zu bringen „[…] erwünschte Verhaltensweisen anzunehmen.“ ist weder moralisch vertretbar, noch hat es auch nur im Entferntesten etwas mit den Dingen zu tun, die ich und viele andere unter Spiel verstehen.

Deswegen gibt es viele Menschen die derzeit unter dem Begriff „Gameful Design“ versuchen die Debatte neu aufzubauen und mit guten Beispielen voranzugehen. Wer nicht auf meinen nächsten Artikel warten möchte, kann sich in der Zwischenzeit die Arbeit von Ekim Tan und ihrem Büro „Play the city“ ansehen um ein Gespür dafür zu bekommen in welche Richtung diese Reise gehen wird.

Michael Masching ist Raumplaner und Mitarbeiter bei DIALOGPLUS. 2019 hat er sein Masterstudium mit einer Arbeit zu dem Thema „The Play-Element of City-Making – A Cultural Perspective on Participation“ erfolgreich abgeschlossen.

Quellen:

Huizinga, Johan. Homo Ludens. Routledge, 2014.

Schell, Jesse. The Art of Game Design: A Book of Lenses. AK Peters/CRC Press, 2014.

Zimmerman, Eric. Manifesto for a Ludic Century. in Walz, Steffen P., and Sebastian Deterding,
eds. The Gameful World: Approaches, Issues, Applications. MIT Press, 2015. 19-22