Blogbeitrag

Interactive Storytelling

Den Lauf der Geschichte selbst mitbestimmen findet sich in immer mehr Komminikations-Formaten.

Stell dir vor, du kannst die Handlung eines Buches oder Filmes selbst bestimmen. Stell dir vor, dass mit jeder Entscheidung, die du triffst, ein noch spannenderer Handlungsstrang beginnt. Und dann stell dir vor, dass es das alles bereits gibt! „Interactive Storytelling“ lautet der Überbegriff einer Reihe von Formaten, in denen Partizipation in scheinbar nicht dafür geeigneten Formaten umgesetzt wird. Wie das funktioniert?

Geschichten – ob Bücher, Filme, Videospiele oder Hörbücher – werden in verschiedene Abschnitte geteilt, zu denen man auf Basis eigener Entscheidungen im Verlauf der Geschichte weiterverwiesen wird. Nach einem Handlungsstrang unterbricht die Geschichte und man wird aufgefordert, aus verschiedenen Optionen zu wählen: z.B. „Ich nehme die rechte Türe“ – „Ich nehme die linke Türe“ – „Ich bleibe stehen und warte“. Musste man bei Büchern früher noch zwischen den Abschnitten hin- und her blättern, werden LeserInnen von interaktiven E-Books automatisch zur richtigen Stelle weitergeleitet. Bei Filmen, Spielen und Hörbüchern wird die Handlung kurz unterbrochen und man kann mittels Tastenkombination oder intelligenter Sprachsteuerung seine Entscheidung anwählen. In der Welt der Videospiele ist der „interactive fiction“-Ansatz bereits weit etabliert; im Film-Business hat Netflix kürzlich mit seiner „Black Mirror“-Folge „Bandersnatch interaktives Fernsehen massentauglich gemacht.

„Interactive Storytelling“ trägt zur Bewusstseinsbildung bei

Was sich nach reiner Unterhaltung anhört, ist in der Welt von Kommunikation und Marketing ein längst verbreitetes Mittel. Firmen nutzen interaktive Werbespots, um Aufmerksamkeit zu erregen; Kampagnen setzen auf aktive Teilnahme, um Produkte spannend in Szene zu setzen. In einer Zeit des digitalen Überangebotes schaffen es interaktive Einschaltungen, aus der Masse an Reizen hervorzustechen und das Interesse der EmpfängerInnen auf sich zu ziehen. [1] [2]

Klingt interessant – da stellt sich auch aus Sicht der partizipativen Stadtentwicklung die Frage: würde sich das denn nicht auch für die Verbreitung gesellschaftlicher und schwierig kommunizierbarer Themen eignen? Könnte man nicht Menschen für neue Inhalte vermitteln, indem man sie in die Rolle von EntscheidungsträgerInnen schlüpfen lässt? Sind interaktive Formate vielleicht ein geeignetes Medium, um Menschen für Entwicklungen in ihrem Umfeld zu sensibilisieren und Bewusstsein für ein gutes Miteinander zu schaffen?

Erste Ansätze dazu gibt es bereits: So haben die Wiener Linien erst kürzlich eine Kampagne initiiert, in der Zivilcourage und korrektes Verhalten im öffentlichen Nahverkehr beworben werden. Eine Reihe von Videos lädt NutzerInnen ein, in die Rolle von VerkehrsteilnehmerInnen zu schlüpfen, die ZeugInnen einer Rauferei oder eines medizinischen Notfalles werden. In den Videos wird man aufgefordert zu entscheiden, wie man sich verhalten würde und erklärt, welche Konsequenzen die jeweilige Entscheidung hätte.

Das Internationale Rote Kreuz machte vor ein paar Jahren Schlagzeilen mit einem Spot, das ZuseherInnen über den Zutritt humanitärer HelferInnen in ein umkämpftes Gebiet verhandeln ließ. Die Aktion sollte Bewusstsein über die Arbeit in Krisengebieten erzeugen und aufzeigen, dass Lösungen sogar in scheinbar unmöglichen Situationen erzielt werden können.

Ein drittes Beispiel kommt aus dem Hurricane-geplagten Texas, wo anhand von selbst steuerbaren Animationen gezeigt wird, wie wichtig Kooperation im Falle einer Evakuierung ist. BewohnerInnen sehen anhand verschiedener Szenarien, ob ihr Haus in einer überschwemmungsgefährdeten Zone liegt und wie sie sich auf solch ein Event vorzubereiten haben.

„Interactive storytelling“ wird in diesen Fällen bewusst eingesetzt, um unbequeme Themen anzusprechen. Muss ich denn wirklich Hilfe leisten? Ist es tatsächlich notwendig, mein Haus im Falle eines Hurricanes zu räumen? Ist Kommunikation mit anders Gestimmten denn wirklich zielführend? Themen, bei denen wir gerne wegsehen, werden somit in den Mittelpunkt geholt.

Interessant! Praktikabel?

Was jedenfalls klar ist: Die Entwicklung von „Interactive storytelling“ benötigt Zeit und Ressourcen. In der Praxis bedeuten interaktive Formate, dass nicht einfach eine Version der Realität erzählt wird, sondern es multiple Handlungsstränge gibt. Das macht es reizvoll – aber eben auch aufwendig.

Je nachdem, wie eine Geschichte aufgebaut ist, vervielfachen sich die Möglichkeiten und somit auch die Versionen einer Handlung. Hier ein kleiner Überblick über gängige Strukturen [4]:

„Verzweigte Struktur“

Eine relativ klassische Erzählstruktur, in der ZuschauerInnen immer weiterreichende Entscheidungen über den Handlungsablauf treffen können. Die Erzählung verzweigt sich je nach den von Ihnen getroffenen Entscheidungen in verschiedene Endungen, ähnlich wie bei der Wiener-Linien-Kampagne. Je nachdem, wie viele Zweige die Erzählung enthält, kann diese Art von Struktur sehr schnell sehr komplex werden.
„Fischgräten-Struktur“

Dies ist eine traditionelle lineare Struktur, die den ZuschauerInnen die Möglichkeit gibt, die Untergeschichten ihrer Geschichte zu erkunden, sie jedoch immer wieder zum Hauptthema ihrer Geschichte zurückzubringen. Diese Struktur gewährt immer noch viel Kontrolle über die Route, die die ZuseherInnen durch Ihr Projekt nehmen.
„Parallel-Struktur“

Diese Struktur bedeutet, dass den ZuschauerInnen einerseits Auswahlmöglichkeiten in der Geschichte geboten werden, andererseits für entscheidende Momente immer wieder zum Hauptthema der Erzählung zurückkehrt wird.
„Aufgefädelte Struktur“

Die perfekte Struktur, um eine Geschichte aus mehreren Blickwinkeln zu erzählen. Themen können miteinander verknüpft werden oder völlig getrennt bleiben. Die Geschichte besteht vielmehr aus einer Reihe unterschiedlicher Themen, die sich weitgehend unabhängig voneinander entwickeln.

Um interaktive Narrative aufzusetzen, gibt es mittlerweile eine Vielzahl einschlägiger Werkzeuge, die auch von Laien gut verwendet werden können. So bieten etwa iStory oder ChoiceScript einfache Tools, um interaktive Geschichten in Buchform aufzusetzen. Diese sind auf mobilen Endgeräten anwendbar und erfreuen sich großer Beliebtheit. Im Video-Bereich stehen NutzerInnen Freeware-Programme wie Kylnt oder Interlude zu Verfügung. [3] [4]

Älter als gedacht

„Interactive Storytelling“ hatte seine Anfänge bereits in den 1960er Jahren. Der kreative Kommunikationsansatz bietet eine einprägsame Art, Inhalte – auch mit geringer Attraktiviät – zu transportieren. Heute haben sich einige Werkzeuge für die effizientere Umsetzung dieser strukturierten Erzählmethode etabliert. Abgesehen von Computerspielen ist sie noch eine Nischenanwendung geblieben. Genaue Zahlen über den Mehrwert von Kampagnenvideos mit interaktiven Narrativen sind nicht verfügbar. Ein spannender Ansatz ist es jedenfalls und insbesondere bei Projekten mit dem Ziel der Bewußtseinsbildung ist es eine interessante Option.

Quellen:

[1] https://www.bbc.co.uk/rd/blog/2019-01-interactive-drama-stories-branching-narrative

[2] https://www.business2community.com/content-marketing/interactive-storytelling-make-content-strategy-soar-2017-examples-stats-01787394

[3] https://www.theguardian.com/technology/gamesblog/2011/jan/11/interactive-fiction-ebooks-apple-kindle

[4] https://directorsnotes.com/2016/08/08/interactive-documentary-guide/